Bernd Sösemann
"Das Ende der guten alten Zeit"
Die Französische Revolution in ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung
Geschichte ist „das Bewusstwerden und das Bewusstsein der Menschheit über sich selbst“ (Johann Gustav Droysen).
Ein historisches Ereignis erfährt bei jeder Vergegenwärtigung eine Umformung. Die französische Republik und mit
ihr das Kaisertum Napoleons (1787–1814) fordern immer wieder zur Erinnerung und Interpretation heraus, denn mit
der „Großen Revolution“ begann im europäischen Bewusstsein eine der bedeutendsten Epochen der neueren
Geschichte. Dem genaueren Blick erschließt sich diese Revolution als der Gipfel einer Reihe ähnlich motivierter
Modernisierungsbewegungen zwischen 1770 und 1840 von Genf bis Königsberg, in Irland, Tirol und der Schweiz, den
Niederlanden und Rheinlanden, Polen und Ungarn, Mailand, Rom oder Neapel. Revolutionsbegeisterung, Reformkonzepte
und Fortschrittsoptimismus bildeten die Signatur der Epoche. Die „Ideen von 1789“ wirkten auf die Verfassungs-,
Wirtschafts- und Sozialordnungen in der ganzen Welt. Sie beschleunigten Veränderungsbemühungen oder hemmten sie.
Die Industrialisierung und ein rapides Bevölkerungswachstum förderten die Entwicklung vom Pöbel zum Proletariat
und rückten wirtschaftliche und soziale Fragen in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen in Gesellschaft und
Staat.
In den innen- und außenpolitischen Krisen der französischen Monarchie um 1785 richtete sich die gespannte
Aufmerksamkeit der französischen Intellektuellen – Angehörige des gehobenen Bürgertums und Adelige – auf die
umstürzlerischen Ereignisse in der „Neuen Welt“. Seit knapp einem Jahrzehnt stand Frankreich unter der
verhängnisvollen Belastung eines Krieges, den es im Bündnis mit den Amerikanern gegen Großbritannien führte.
Mit Soldaten, Schiffen und Geld unterstützte es die Unabhängigkeitsbestrebungen der abgefallenen 13
nordamerikanischen Staaten. Mit dem Frieden von Paris (1783) konnte Frankreich zwar die britische Vorherrschaft
vorübergehend brechen, aber der Krieg hatte es eine Milliarde Livres gekostet. Der Zinsendienst für Anleihen
umfasste jährlich ein Drittel der Staatsausgaben. Englische Produkte und kurzfristige ausländische Kredite
lösten in Frankreich eine Dauerkrise aus; im Durchschnitt stiegen die Preise dreimal schneller als die Löhne und
gleichzeitig wurde die Landwirtschaft durch Viehseuchen und Missernten hart getroffen. Die Bauern profitierten
nicht von der Verteuerung ihrer Produkte, weil sie nur mühsam ihren Eigenbedarf zu decken vermochten. Da in einer
derartigen Rezession auch Verdienste im textilen Heimgewerbe zurückgingen, litten die Tagelöhner ebenso wie
die Kleinbauern. Erschwerend kam hinzu, daß Adelige die Allmende einzäunten, Pachten verdoppelten sowie Abgaben
und Zehnte – bis zu 30 % der Ernte – unnachsichtig eintrieben. Arbeitslose drängten zusätzlich auf einen
Arbeitsmarkt, der infolge der enorm gewachsenen Bevölkerung bereits gesättigt war. Daher mussten viele
betteln gehen; zahllose Wegelagerer verunsicherten das Land, Raub und Diebstahl nahmen zu.
Die Zentralgewalt wurde von Ludwig XVI. repräsentiert. Doch jenem unentschlossenen König standen eine mächtige
Opposition des Hofes, die Parlaments-Gerichte und die hohen Stände gegenüber. Klerus und Adel, Erster und Zweiter
Stand, bildeten keine einheitliche soziale Schicht. Die Unterschiede in rechtlicher, politischer und sozialer
Hinsicht waren groß; Besitz und Vermögen differierten gewaltig. 10 % des Bodens besaß der Klerus, 20 % der Adel,
30 % das städtische Bürgertum. Im Adel – er war von den meisten Steuern und Abgaben befreit – reichten die
jährlichen Einkommen von 600 bis hinauf zu 7 Millionen Livres; im Klerus von 750 bis zu 1,2 Millionen – er
beschränkte sich auf freiwillige Zahlungen an den Hof. Bürger und Bauern finanzierten als Einzige die Taille
(Bodensteuer) und damit die Hälfte der direkten Steuern. Vor diesem Hintergrund diskutierten die politisch
Interessierten in den Salons, Klubs und Lesegesellschaften des Ancien régimes die amerikanische
Unabhängigkeitserklärung von 1776, deren revolutionäre Verfassungsprinzipien, die Proklamation von Bürger- und
Menschenrechten und die Anerkennung des Volkes als verfassunggebende Gewalt. Nicht allein die Gebildeten
Frankreichs erhofften sich von der „Libertas Americana“ und einer „belle révolution“ den Anfang einer neuen Ära des
Menschengeschlechts. Denn eine „Vorrevolution der Privilegierten“ – 144 vom König ausgewählte, an Bildung, Rang
und Vermögen bedeutende Männer – war 1787 zwar inhaltlich gescheitert, aber eines ihrer Mitglieder, der Marquis de
Lafayette, hatte einen faszinierenden neuen Verfassungsgrundsatz ausgesprochen: Allein »den authentischen Vertretern
der Nation« komme es zu, über neue Steuern zu entscheiden. Die Unzufriedenheit wurde immer sichtbarer und
steigerte sich, als neben Flugschriften und Traktaten der Adeligen und Bürger auch Bauern, denen Geistliche ihre
Feder liehen, ihre Kritik in einer Flut von Petitionen popularisierten. Es entstand eine bisher unbekannte Form
von Öffentlichkeit.
Drei Vorgänge charakterisierten die revolutionäre Atmosphäre. Erstens verharrte eine wachsende Zahl adeliger
Repräsentanten in zynischer oder auch resignierender Distanz zur monarchisch-aristokratischen Gesellschaft:
„Voltaire ergriff unseren Geist, Rousseau rührte unser Herz; wir fühlten ein geheimes Vergnügen, wenn wir sahen,
wie sie (die Schriftsteller) das alte Gebäude angriffen“ (Graf von Ségur). Zweitens führte die Kritik an den
bestehenden Institutionen zur Suche nach einer vernünftigen politischen Ordnung: „Es geht darum, eine
Gesellschaftsform zu finden, welche ... die Person und die Güter jedes Gesellschaftsmitgliedes verteidigt und schützt
und durch welche jeder einzelne nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie zuvor, obwohl er sich mit allen
verbindet“ (Rousseau). Drittens zeigte sich ein zunehmendes Verständnis für die wachsende Not der bäuerlichen und
städtischen Bevölkerung in weiten Kreisen der Bourgeoisie und auch bei vorausblickenden Angehörigen der ersten
beiden Stände, wenn sie vom König Beratungen unter Einschluss des Dritten Standes (98 % der Bevölkerung) forderten:
„Haben etwa die Vereinigten Staaten die Sanktion des englischen Königs abgewartet?“
Im Mai 1789 versammelten sich 1165 Abgeordnete aus ganz Frankreich zur Eröffnung der Generalstände in
Versailles. In dem Bewusstsein, die gesamte Bevölkerung zu vertreten, erklärte sich der Dritte Stand am 17.
Juni zur »Assemblée nationale«. Drei Tage später versicherte diese pathetisch, erst dann auseinander zu gehen,
wenn von einer verfassunggebenden Versammlung (Constituante) eine Konstitution geschaffen sei. Aus der Pariser
Wahlmännerversammlung bildete sich eine neue Stadtverwaltung, die revolutionäre „Commune“. Lafayette schuf eine
republikanische Schutztruppe, die mit blau-roter Kokarde geschmückte Nationalgarde. Am 14. Juli kam es zur
Überrumpelung der Bastille, dem Symbol der Knechtschaft. Als Ludwig XVI. am nächsten Tag erklärte, er sei
„ganz eins mit der Nation“ und vertraue sich der „Constituante“ an, büßte das Königtum seinen sakralen Charakter
ein. Ende Juli 1789 emigrierten die ersten Privilegierten; im Januar 1793 wurde der König hingerichtet. Drei
Revolutionen waren im Sommer 1789 abgelaufen: die der Abgeordneten, der Städter und die auf dem Lande. In Paris
schürten Advokaten wie Desmoulins, Barnave, Danton und Marat, der wegen seiner volkstümlichen Polemik gefeierte
Journalist, erfolgreich eine kleinbürgerliche Massenbewegung. Sie fand ihren ersten Höhepunkt, als ein Zug von
Frauen die Königsfamilie dem Einfluss des Versailler Hofadels entzog und nach Paris, „in des Volkes Mitte“,
verschleppte.
Die „Constituante“ schaffte in der Nacht zum 5. August die meisten feudalen
Steuerprivilegien, persönliche Gutsuntertänigkeit, grundherrliche Gerichtsbarkeit,
adelige Exklusivrechte (Jagd, Fischerei, Taubenhaltung) und den kirchlichen
Zehnten ab und eröffnete Bürgerlichen sämtliche Ämter. Die Finanzkrise sollte zwar
durch den Verkauf des Kirchenguts und durch Schuldanforderungen an den Staat
(„Assignaten“) beseitigt werden, jedoch beförderten diese Maßnahmen die
Inflation. Drei Wochen später verabschiedeten die Abgeordneten eine Erklärung
über Menschen- und Bürgerrechte. Die Sklaverei blieb aus kolonialen Interessen
bestehen, und das Problem der wirtschaftlichen Ungleichheit überging man. Doch
die normsetzende Kraft von Vérité, Raison, Liberté, Egalité, Fraternité hat seitdem
die moderne Welt bestimmt. Ihre Ideale sind bis heute individuelle Freiheit,
Volkssouveränität, Repräsentation, geschriebene Verfassung, Gewaltenteilung, zivilrechtliche
Gleichberechtigung, Garantie von Privateigentum und Glaubensfreiheit.
Die Französische Revolution und die Herrschaft Napoleons bilden eine Einheit,
obwohl sich einzelne Phasen deutlich herausheben und der despotische Herrscher
1799 die Revolution zu beenden suchte. Die Phase des Terrors beeindruckte
Zeitgenossen wie nachlebende Generationen am stärksten. Die äußerste Linke
(Montagnards) scharte sich um Marat, den radikalen Sprecher der Armenviertel
(„Lasst Köpfe rollen!“). Um den Militärexperten Carnot sammelte sich die Mitte,
und die Rechte bildeten die zumeist aus der Gironde stammenden Girondisten
(Brissot und Condorcet), die an einen gemäßigt-vernünftigen Ablauf der
Revolution glaubten. Die radikalen Jakobiner vertraten die Kleinbürger
(Sansculotten), als sie sich im Winter 1791/92 wegen steigender Preise und
Arbeitslosigkeit zusammenrotteten. Diese Ladenbesitzer und Handwerker popularisierten
das Revolutionslied „Ça ira!“ und trugen als Zeichen ihrer revolutionären
Gesinnung lange Hosen und hohe phrygische Mützen. Sie unterstützten den Krieg
gegen ihre äußeren Feinde, die Emigranten und die Monarchien Europas, und
drohten dem politischen Gegner im Innern, den Gemäßigten und
Revolutionsfeinden, mit der Guillotine. Die Commune löste im Sommer 1792 mit
ihrer Forderung, „Das Volk muss sich selbst Gerechtigkeit verschaffen!“, eine
Terrorwelle aus. Der Gegensatz zwischen den Girondisten und Montagnards trieb
die Revolution im Innern weiter und führte 1793 zur Errichtung eines
Wohlfahrtsausschusses (Comité du salut public), in dem Robespierre und Saint
Just die Macht übernahmen: Der Terror vernichte die Feinde, die Vernunft führe
das Volk zu Tugend und Glück! „Das ist keine Justiz mehr, sondern Ausrottung“,
meinten sogar Revolutionäre. In dieser Situation fanden sich am 27. Juli
(9. Thermidor) 1794 Überlebende zu einer gemeinsamen Aktion zusammen. Unter
großem Jubel wurde der „Unbestechliche“, das „Ungeheuer Robespierre“, mit
seinen Vertrauten hingerichtet. Der „Weiße Terror“ eines 5-Männer-Direktoriums
gegen alles Jakobinische ließ im März 1796 eine „Verschwörung der Gleichen”
(Babeuf) entstehen. Im Kampf gegen jahrelangen Aufruhr zeichnete sich
Napoleon Bonaparte (1769 –1821) besonders aus. Dieser korsische General
gewann zusätzlich zur Treue seines Heeres auch die Zustimmung der Massen,
so dass er das Regime eines „militärisch-demokratischen Caesarismus” zu begründen
vermochte. Es charakterisiert sich nicht nur durch Plebiszite, Zentralisation und
Zensur, sondern auch durch Verbannung – die „trockene Guillotine“ der Tropen –,
Bestechung, Denunziation, Erschießen „auf der Flucht“ und durch Einlieferungen
in Heime für Geisteskranke. Aber die revolutionär errungenen Grundfreiheiten ließ
Napoleon weitgehend unangetastet; seine Rechts- und Verwaltungsreformen belebten
gleichzeitig Wirtschaft, Verkehr und Handel. Da die Terrorgesetze flexibler
als unter den Jakobinern angewandt und Unterwerfungen huldvoll akzeptiert wurden,
berichtete der preußische Botschafter: „Jede vorangegangene Revolution hatte
eine Menge Mißtrauen und Angst im Gefolge. Im Gegensatz dazu hat diese ...
jedermann mit neuem Mut erfüllt und die lebhaftesten Hoffnungen geweckt.“ Ende
1804 salbte Pius VII. den „Sohn der Revolution“, der sich anschließend selbst zum
Kaiser krönte.
Haben Revolution, Republik und Kaisertum zu einem vollständigen Bruch mit dem
vorrevolutionären Frankreich geführt? Die neuere Geschichtsforschung bestätigt die
bereits von Alexis de Tocqueville 1856 gegebene Antwort, Ancien régime,
Revolution und Herrschaft Napoleons verknüpfe ein Band der Kontinuität. Die
Einheit der Epoche erschließt sich uns als ein vielschichtiges Zusammenwirken von
revolutionären und reformerischen Entwicklungen. Nicht alle der genannten
freiheitlich-parlamentarischen Prinzipien stellen originäre Schöpfungen der
Französischen Revolution dar, doch konnten sie in einem solchen Ausmaß verwirklicht,
aber auch in ihr Gegenteil, in Terrorregime und Militärdiktatur verkehrt
werden, dass ihnen seitdem weltweit hohe Bedeutung zukam. Spätere Regierungen
hatten sich der werbenden Kraft der Ideen von 1789 zu stellen.
Univ.-Prof. Dr. Bernd Sösemann,
Historiker, Direktor des Instituts für Kommunikationsgeschichte und angewandte
Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin
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